Eindeutig: Wir haben Winter und im Vogelsberg ist es kalt – sogar arschkalt. Aber es ist trocken, auch die Strassen. Bereits am Samstag denke ich an eine Planetafahrt, aber da steht einfach zu viel Arbeit an. Aber dann der Sonntag: Immer noch trocken, immer noch kalt, ich komm relativ früh aus der Kiste und kicke um kurz vor 9:00 die Planeta an. Ganz deutlich spüre ich heute den Winter, und das nicht nur wegen der Kälte. Und meine Nase sagt mir: Es riecht nach Schnee.
Ja, es riecht nach Schnee. Während Polja und ich langsam in RIchtung Kirtorfer Wald tuckern, geht mir ständig dieser Satz durchs Hirn: Es riecht nach Schnee. Ich verbinde den kurzen Satz mit einem alten Musikstück, aber mit welchem? Die gesamte Fahrt muss ich daran denken, aber erst später und wieder zu Hause komme ich drauf: Aus einem uralten Extrabreit-Stück aus den 80ern habe ich das tief im Kleinhirn abgespeichert. 110 hiess das coole Lied und die Textpassage lautete:
Der Mond hängt satt und bleich im Antennenwald,
die Luft steht starr und klar, die Nacht wird kalt.
Lachend stirbt auf der leeren Kreuzung ein Reh,
es riecht nach Schnee.
OK, das hätte ich auch geklärt, Danke Google. Zurück zur kalten Ausfahrt am Sonntag Morgen. Heute hab ich wirklich überhaupt kein Ziel und lasse mich total treiben. Einzig der Kirtorfer Wald ist ein Muss, denn das ist zweifellos die schönste Art, meinen Heimatort Nieder-Ohmen zu verlassen. Von da aus gerate ich dann später ins marburgische, was eigentlich immer eine hübsche Fahrt verspricht. Aber anfangs verläuft die kleine Tour eher nervig und unerfreulich.
Es ist also kalt, es ist feucht, die Thermoboy-Handschuhe halten nicht, was sie versprechen. Einzig Polja macht die Kälte nichts aus – im Gegenteil. Sie springt pefekt an und selbst das Getriebe ist mit dem kalten Öl ordentlich zu bedienen.
Durch die hohe Luftfeuchtigkeit schlägt sich Wasser am Visier und und am Tachoglas nieder – und durch die geringe Temperatur friert es dort sehr schnell. So komme ich zu einem ständigen Wechsel zwischen offenem und geschlossenem Visier. Was anfangs ein wenig nervt, wird aber bald zur Gewohnheit, und ich beginne, die Fahrt zu geniessen. Selbst die kalten Finger können das nicht beeinträchtigen. Und irgendwas ist ja bekanntlich immer.
Am einsamen Forsthaus tief im Kirtorfer Wald sind die Hände stark ausgekühlt. Die Ablage der Handschuhe auf dem Motorgehäuse verbessert die Situation für die nächste halbe Stunde ein wenig.
In Lehrbach steht die gewaltige Staatsdomäne mit Burgruine, eigener Kapelle und riesigen Stallungen. Welcher Adelsfamilie das Anwesen gehört, vermag ich nicht zu sagen.
Aber auch Adel und Grossgrundbesitz können den wirtschaftlichen Abstieg nicht immer verhindern: Die gesamte Domäne ist zu vermieten.
Und das kleine Fachwerkhaus direkt gegenüber gleich mit. Aber wer möchte hier schon leben, direkt an der B62, auf der sich an Wochentagen gewaltige Blechlawinen entlangschieben. Heute ist es hier jedoch herrlich ruhig.
Heute hab ichs ein wenig mit Grossgrundbesitz und hochherrschaftlichen Gebäuden. Dieses Bild zeigt einen Teil des Schlossparks in Schweinsberg, der den Schenks zu Schweinsberg gehört. Ich spüre regelrecht Poljas Widerwillen gegen diese bourgeoisen Relikte.
Allmählich scheine ich mich an die Temperaturen gewöhnt zu haben, denn die Fingerfriererei wird langsam etwas erträglicher. Deshalb kann ich meine kleine Runde ausweiten und bewege mich tief in marburgisches Gebiet. Hier entdecke ich das kleine NABU-Biotop Arzbach.
Ingesamt ist meine Bekleidung nicht schlecht gewählt – aber eben die Hände. Warum installiere ich eigentlich keine Heizgriffe? Die Powerdynamo-Lichtmaschine mit 180 Watt käme damit locker klar. Also, warum nicht? Oder was ist mit Lenkerstulpen? Habe ich nicht die besten Stulpen der Welt zu Hause?
Egal, weiter gehts ohne Heizgriffe und Stulpen. Irgendwann stosse ich wieder auf die Ohm. Was bei uns hinterm Haus noch ein besseres Bächlein ist, hat sich hier zum ordentlichen Fluss gemausert.
Wir geniessen ein wenig den ruhigen Fluss und die ebenfalls ruhige, unspektakuläre Landschaft.
Bei Kirchhain kommen wir an die gewaltige Kiesgrube, die schon seit Jahrzehnten ausgebeutet wird. Das ist die richtige Umgebung für Polja, das sozialistische Arbeiterkind.
Seit ich in dieser Gegend lebe, wird hier Kies abgebaut und ich frage mich, was mit all dem Kies geschieht? Strassenbau findet in Hessen seit Jahren nur noch in Form von Ausbesserungen statt, Häuser werden eher verkauft als neu gebaut – was also geschieht mit dem Zeug? Man waas es nit!
Nahe Himmelsberg stosse ich auf die Schafherde, der die Kälte überhaupt nichts ausmacht. Muss eine sehr robuste Rasse sein, denn derart dickes Fell habe ich bei Schafen noch nicht erlebt. Schaffell – und sofort denke ich wieder an meine Lenkerstulpen zu Hause.
Kurz vor Mittag zeigt sich die Sonne etwas mehr und man könnte hier meinen, dass die Temperaturen ansteigen. Aber das geschieht nicht und der optische Eindruck täuscht. Es wird jetzt seltsamerweise sogar noch kälter.
Die zunehmende Kälte veranlasst einen Richtungswechsel gen Homberg. Am Rondinchen bin ich heute völlig allein und erwärme die Handschuhe noch einmal auf dem Zylinderdeckel.
Bis hierher haben wir etwas mehr als 100 km zurückgelegt und trotz der kalten Pfoten habe ich die Fahrt genossen. Aber nun ist auch gut und ich gehe die letzten 30 km an.
Zurück in Mücke hole ich als erstes meine weltbesten Winterstulpen heraus und stecke sie auf Poljas Lenker. Ready for takeoff – aber die Dinger wärmen bestimmt und bei der nächsten Ausfahrt sind die dran.
Die weltbesten Winterstulpen kommen übrigens nicht aus Russland, auch nicht aus Norwegen oder dem Baltikum. Nein, es sind die berühmten Urbano Tucano Stulpen aus Italien! Generationen von Rollerfahrern haben dieses Produkt geprägt und es zu dem gemacht, was es heute ist. Die nächste Fahrt wird zeigen, ob die Stulpen dem Winter in Hessisch-Sibirien gewachsen sind.